Vor vielen Jahren besuchte ich meine Tante in London. Während sie arbeitete, fuhr ich in die Innenstadt und machte Sightseeing. An einem Tag besuchte ich die National Portrait Gallery und verbrachte mehr als einen halben Tag in diesem Museum.
Kannst Du Dir das vorstellen? Über mehrere Stunden lang nur Gesichter von Menschen anschauen, die längst tot sind?
Mich hat es damals fasziniert. Ich schaute ihnen in die Augen, betrachtete ihren Mund, ihre Nase, ihre Frisur, ihre Haltung und ihre Kleidung. Natürlich ist ein Gemälde nicht so authentisch wie eine (unbearbeitete) Fotografie. Bei einem Gemälde schauen wir durch die Augen das Malers auf die gemalte Person. Und da solche Portraits früher häufig Auftragsarbeiten waren, bin ich mir im Klaren, dass die Darstellungen sicherlich geschönt wurden, damit das Bild den Auftraggebern auch gefällt.
Dennoch konnte ich aus den Gesichtern gewisse Charaktereigenschaften herauslesen. Der Mann mit dem dicken Bauch und dem roten Gesicht, der Alkohol und gutes Essen liebt; das blasse Mädchen mit dem sanften Lächeln, das mich schüchtern anschaut; die ältere Dame, die mich mit strengem Blick von oben herab betrachtet; der Soldat in der schmucken Uniform, dessen Blick mir nichts verrät und dessen Gesicht keinerlei Regung zeigt… es gab so viel zu entdecken! Ich sah einigen Menschen in die Augen, die ich liebend gern kennengelernt hätte. Es waren aber genug darunter, denen ich damals oder heute aus dem Weg gehen würde.
Obwohl dieser Museumsbesuch schon fast vierzig Jahre zurückliegt, wurde ich vor kurzem daran erinnert. Für meine Indienserie lasse ich derzeit neue Buchcover machen. Es hat etwas gedauert, bis ich zusammen mit meinem Cover Designer das Konzept erarbeitet hatte. Oben auf dem Cover sollten ein Augenpaar die potentiellen Leser anschauen, während der untere Teil indische Torbögen den Blick auf ein zum Buchinhalt passenden Motiv freigeben.
So weit, so gut.
Im ersten Band sollten es die Augen eines indischen Mannes sein und meinen Protagonisten Rajendra Kalachuri repräsentieren. Dunkle Haut und fast schwarze Augen – das kann ja nicht so schwierig sein… dachte ich. Die ersten drei Augenpaare waren solala. Da musste etwas anderes her!
Von meinen Indienreisen sind noch mehrere Kontakte geblieben und einer davon fotografiert gern. Also schrieb ich ihn an, ob er mir einige Fotos von Männergesichtern schicken könne, deren Augen ich eventuell für das Buchcover verwenden dürfte.
Kannst Du Dir denken, was passiert ist? Sieh Dir das folgende Foto an:
Als tagelang immer neue Portraits per WhatsApp ankamen, musste ich automatisch an jenen Museumsbesuch in London zurückdenken. Denn wie damals blickte ich in die Augen der unterschiedlichsten Menschen (übrigens waren auch Fotos von Frauen darunter, obwohl ich Männeraugen suchte?). Ich betrachtete jeden einzelnen von ihnen und fragte mich, wo sie leben, wie sie leben, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, ob sie verheiratet sind, ob sie glücklich sind, welche Träume sie haben und vieles mehr.
Für mein Buch haben wir uns letztendlich für ein Stockfoto entschieden, das mein Cover Designer gefunden hat. Aber geblieben sind all die Gesichter und ihre Lebensgeschichten, die mir wohl für immer verborgen bleiben werden.
Hast Du „Geld, Macht, Tod“ schon gelesen? Wie gefallen Dir Rajendras Augen? Passen sie zur Person?
Schreib mir Deine Meinung gern per Mail an info(at)sabrinakyrell.de
Und falls Du das Buch noch nicht gelesen hast, kann ich es Dir wärmstens empfehlen. Aber Vorsicht! Wenn Du einmal angefangen hast zu lesen, wirst Du das Buch wahrscheinlich nicht mehr weglegen können! Bist Du stark genug? Dann klicke hier auf diesen Link.
P.S.: Geschichten aus dem Autorenleben und Neuigkeiten über mich und meine Bücher gibt es alle zwei Monate hier…
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